Montag, 9. März 2015

Exil

„Der Aufbruch meiner Eltern gehörte zum großen Wandern, über die Meere hin richteten sich die Blicke, andern Kontinenten entgegen, Häfen wie Marseille, Genua, Rotterdam, Lissabon, Odessa, Istanbul waren Orte eines Orakels, einer magischen Hoffnung, zu Tempeln waren Konsulate und Gesandtschaften geworden, die Türschwellen feucht von Küssen und Tränen. Es war das Natürliche, das Normale, dieses Flehn um Zulassungsscheine, Sichtvermerke, um einen Platz in den Quoten, ein Visum bedeutete Absolution, und dies kam nur jenen zu, die das Geld besaßen, sich Erbarmen zu kaufen. Es schwollen die Massen derer an, die nicht mehr zu bieten hatten als ihre Verzweiflung, und Verzweiflung war das Wertloseste von allem Überflüssigen, und bald fanden sich zwischen den Enteigneten auch die, die gestern noch wohlhabend waren, und es gab nur noch den Sturz in das Umherirren, ohne Ausweg und Bleibe.“
 
(Die Ästhetik des Widerstands - Peter Weiss, S.865)